THEMATISCHER SCHWERPUNKT 2023:   Jubiläumsausgabe – 30 Jahre Convivium  Rückblicke, Wandlungen, Anpassungen 

2023-02-13

THEMATISCHER SCHWERPUNKT 2023: Jubiläumsausgabe – 30 Jahre Convivium Rückblicke, Wandlungen, Anpassungen 

Als 1993 die erste Ausgabe von Convivium erschien, war dies Folge des „Fortfall[s] trennender Grenzen“, wie es im damaligen Vorwort des Germanistischen Jahrbuchs Polen heißt. Nach umfangreichen Transformationen in Mittelosteuropa wurde dessen germanistische Forschung vom Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD), der sich als Leitbild dem ‚Wandel durch Austausch‘ verschreibt, durch entsprechende Publikationen gefördert. Geöffnete Grenzen ermöglichten nunmehr einen Wissen(schaft)stransfer, während etwa der letzte sowjetische Soldat Polen verließ, die Tschechoslowakei gerade aufgelöst worden war, Länder des ehemaligen Jugoslawiens noch blutige Souveränitätskämpfe führten, die EU wirtschaftliche Realität wurde und Bündnisse vereinbarte. Etwa dreißig Jahre nach diesen Wenden sind (gefallene) Grenzen teils wieder hochaktuell, wurden und werden mitunter nicht nur überschritten, sondern gewaltsam verletzt. Brutal zeigt dies der russische Angriffskrieg in der Ukraine, der die Annexion der Krim von 2014 nicht nur in geopolitischer Hinsicht mit grenzenloser Aggression fortsetzt.  

Auch angesichts dieser erneuten Wendepunkte sollen mit dem Schwerpunkt der Jubiläumsausgabe Rückblicke auf die vergangenen dreißig Jahre erfolgen. Gefragt werden soll insbesondere nach kulturellen, politischen, medialen Wandlungen und Anpassungen. Diese können den Klimawandel und diesbezügliche Diskurse ebenso betreffen wie etwa die ‚cancel culture‘ als medial bedingtes neues oder erneuertes Phänomen. Auch die diversen kulturellen Wenden der letzten Jahrzehnte samt ihrer (Un)Umstrittenheit und Returns fallen darunter – spatial turn, iconic turn, material turn, performative turn, postcolonial turn, graphic turn etc. (vgl. Bachmann-Medick 2018, Moebius 2012, Schöttler 2018). Bei dem ‚Remembering‘ der letzten dreißig Jahre stellt sich auch die Frage, an was erinnert, was vergessen wird (vgl. Heidemann 2021), ob und wie etwa die demokratischen Revolutionen von 1989/1990 erinnert werden (vgl. Burakowski / Gubrynowicz / Ukielski 2020). Wie wird auf transnationale Dialoge, auf die EU-Erweiterung oder auf die Vorvergangenheit der strikten Trennung zwischen dem kapitalistischen Westen und dem sozialistischen Osten zurückgeblickt (vgl. Krause / Partzsch 2012)?  

Die letzten dreißig Jahre waren aber nicht nur Wendezeiten im politischen und kulturellen Sinn. Die ‚turns‘, Wandlungen und Umbrüche wurden begleitet vom Zwang der Anpassung, vor allem an neoliberale Gesellschaftskonzepte, doch auch an die fortschreitende Medialisierung und Digitalisierung aller Lebensbereiche, auch der Kultur, Kunst und Wissenschaft. Wer sich an diese Herausforderung nicht anpasst, kann in einem kommunikativen Vakuum verschwinden. Auf der einen Seite charakterisiert sich die Wende vom 20. zum 21. Jahrhunderts durch ungeheuren Fortschritt, der bisher ungeahnte Chancen eröffnet, auf der anderen Seite schränkt dies die Freiheit der Wahl, zwingt zur Beschleunigung des Lebenstempos, marginalisiert den Individualismus, verlangt nach Vereinheitlichung.  

Analysiert werden können diese wie viele weitere denkbare Aspekte beispielsweise in Literatur, Theater, Film, Comic oder Games, die nicht nur Retrospektiven enthalten, sondern diese zudem durch ein retrogrades Erzählen ausgestalten können. Das Rückwärtserzählen erschüttert gewohnte raumzeitliche Konstellationen, verweist auf kausal-kohärente Unregelmäßigkeiten und Alternativen, hebt chronologische Logiken auf und führt in neue Korrelationen ein (vgl. Körte 2019). Solche narrativen Inversionen erweisen sich angesichts von Rückblenden als medial unterschiedlich arrangierte Verfahren mit gleichfalls verschiedenen Effekten und Intentionen. 

Die letzten dreißig Jahre haben auch Sprache(n) und das kommunikative Verhalten seiner/ihrer Nutzer:innen geprägt. Neben den bereits erwähnten politischen, sozialen und kulturellen Prozessen, die sich zweifellos stark sowohl auf Diskurse selbst als auch ihren Sprachgebrauch ausgewirkt haben, sind weitere zu nennen, die einen großen Einfluss auf die Sprache, ihren Gebrauch und ihren Wandel hatten: mit der Wiedervereinigung Deutschland begann ein beispielloser Prozess der „Wiederherstellung einer Kommunikationsgemeinschaft eines Landes, das vierzig Jahre in zwei Staaten getrennt gewesen war“ (vgl. Eroms 1994, 1996). Eine Zeitspanne von mehr als dreißig Jahren bietet Gelegenheit, eine Bilanz dieses Annäherungsprozesses zu ziehen, und zwar sowohl aus der Innen- als auch aus der Außenperspektive. Von großer Bedeutung für das Sprachverhalten sind auch weitere Themen der öffentlichen Debatten, bei denen die Sprache zum Lackmustest für den sozialen und kulturellen Wandel wurde, z. B. die Debatten über die geschlechterinklusive Sprache (vgl. Appiano 2022, Hilke 2020) oder den Gebrauch der leichten Sprache in Institutionen (vgl. Bock / Fix / Lange 2017) – zwei Beispiele für die untrennbare Beziehung zwischen Gesellschaft und Sprache, in der sich die Sprache einerseits an den Wandel anpasst und andererseits selbst zum Impulsgeber für weitere gesellschaftliche Veränderungen wird.  

Im Zeitalter der bereits erwähnten fortschreitenden Digitalisierung und Mediatisierung hat sich in erster Linie die Art und Weise, wie wir miteinander kommunizieren, stark gewandelt – die Kommunikationskanäle sind einem steten Wandel unterworfen, sind vielfältiger geworden. Das Aufkommen des Internets und der damit verbundenen neuen Kommunikationsgattungen und -formen hat unsere Kommunikationsroutinen allmählich verändert (vgl. Runkehl 2020, Lobin 2018). Gefragt sind Beiträge, die über sprachliche Anpassungsprozesse an neue Kommunikationsbedingungen reflektieren, z. B. die Multimodalität (multimodale Text), reduzierte Grammatik oder komprimierte Ausdrucksweise.  

Last but not least wollen wir auf einen weiteren Aspekt hinweisen, der unserer Einschätzung nach einer kritischen Reflexion bedarf, gemeint sind all die Wandelprozesse, denen das Fach Germanistik in den letzten dreißig Jahren unterworfen war. Seither lassen sich zahlreiche Veränderungen im europäischen Hochschulsystem, auch in deutschen und polnischen Hochschulen (vgl. Dittler / Kreidl 2018) beobachten. Die Einführung des Europäischen Wissenschafts- und Bildungsraums, die Globalisierung der Wissenschaft, das Streben nach immer größerer Sichtbarkeit wissenschaftlicher Publikationen, auch Veränderungen in den Entwicklungsstrategien solcher Institutionen wie beim DAAD sind nicht ohne Einfluss auf die Germanistik geblieben. Wir laden Sie daher auch ein, sich kritisch mit der Germanistik als Forschungs- und Studienfach, ihren Anpassungsmöglichkeiten an die Erfordernisse der Gegenwart und ihren Entwicklungsperspektiven auseinanderzusetzen. 

Literatur 

Appiano, Lisa (2022): Sprache, ein Ort sozialen Lebens. Zum geschlechterinklusiven und diskriminierungssensiblen Sprachgebrauch. In: Mitteilungen der VÖB 75(1):311-322.  

Bachmann-Medick, Doris (2018): Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg. 

Bock, Bettina M. / Fix, Ulla / Lange, Daisy (eds.) (2017): „Leichte Sprache“ im Spiegel theoretischer und angewandter Forschung. Berlin. 

Burakowski, Adam / Gubrynowicz, Aleksander / Ukielski, Paweł (2020): 1989. The Autumn of Nations. Warsaw. 

Dittler, Ullrich / Kreidl, Christian (eds.) (2018): Hochschule der Zukunft. Beiträge zur zukunftsorientierten Gestaltung von Hochschulen. Wiesbaden  

Eroms, Hans-Werner (1994): Die deutsche Sprache hüben und drüben - drei Jahre nach der Wiedervereinigung. In: Heringer, Hans Jürgen / Samson, Gunhild / Kauffmann, Michael / Bader, Wolfgang (eds.): Tendenzen der deutschen Gegenwartssprache. Tübingen, 23-40. 

Eroms, Hans-Werner (1996): Die sprachliche Wiedervereinigung Deutschlands – Ein weites Feld. In: Aktuelles für den Deutschunterricht in Norwegen 19, 22-25. 

Heidemann, Gudrun (ed.) (2021): Lethe-Effekte. Forensik des Vergessens in Literatur, Comic, Theater und Film. Paderborn. 

Hilke, Elsen (2020):Gender – Sprache – Stereotype: Geschlechtersensibilität in Alltag und Unterricht.  Tübingen. 

Körte, Mona (ed.) (2019): Rückwärtsvorgänge. Retrogrades Erzählen in Literatur, Kunst und Wissenschaft. Berlin. 

Krause, Stephan / Partzsch, Friederike (2012): „Die Mauer wurde wie nebenbei eingerissen.“ Zur Literatur in Deutschland und Mittelosteuropa nach 1989/90. Berlin. 

Lobin, Henning (2018): Digital und vernetzt: das neue Bild der Sprache. Stuttgart. 

Moebius, Stephan (ed.) (2012): Kultur. Von den Cultural Studies bis zu den Visual Studies. Eine Einführung. Bielefeld. 

Runkehl, Jens (2020): Wie die Digitalisierung von Sprache und Kommunikation die Gesellschaft beeinflusst. In: Vilain, Michael (ed.): Wege in die digitale Zukunft. Was bedeuten Smart Living, Big Data, Robotik & Co für die Sozialwirtschaft?. Baden Baden, 69-78. 

Schöttler, Peter (2018): Nach der Angst. Geschichtswissenschaft vor und nach dem „linguistic turn“. Münster. 

GH / BM 

Wir freuen uns auf Ihre Beiträge, die Sie bis zum 15. März 2023 an die folgenden Adressen schicken können:  

linguistische Beiträge: 

Beata Mikołajczyk – beatamik@amu.edu.pl 

literatur- und kulturwissenschaftliche Beiträge: 

Gudrun Heidemann – gudrun.heidemann@uni.lodz.pl 

Website von Convivium: https://czasopisma.uni.lodz.pl/conv