Collectanea Philologica, XXVI, 2023: 105–117
https://doi.org/10.18778/1733-0319.26.09


Damian PIERZAK *

Badacz niezależny
Orcidhttps://orcid.org/0000-0002-4140-842X

Cicero und Andokides[1]

Cicero and Andocides

Due to the fact that Andocides is nowhere mentioned in Cicero’s oeuvre it is universally assumed that Cicero could not have read, let alone been inspired by, the works of Andocides. By comparing several passages from both orators, this paper argues that this is not necessarily the case. In terms of both language and content, these texts bear so close a resemblance to one another, that a direct influence does not seem beyond question. If Cicero had indeed, whether deliberately or otherwise, borrowed some ideas and/or phrases from Andocides, the absence of the latter’s name in Cicero’s extant writings can be explained in two different ways: (1) either certain expressions that occur in Andocides’ speeches could have been known to Cicero from indirect tradition, (2) or Cicero was simply reluctant to admit to his acquaintance with the least esteemed of the ten Attic orators.

Keywords: Cicero, Andocides, ancient oratory, imitation, intertextuality
Schlüsselwörter: Cicero, Andokides, Rhetorik, Imitation, Intertextualität
Słowa kluczowe: Cyceron, Andokides, retoryka starożytna, naśladownictwo, intertekstualność


Herrn Prof. Zbigniew Danek,
einem nachahmungswerten Forscher und Menschen,
zu seiner Emeritierung gewidmet

Dass Cicero mit den Reden des Andokides unvertraut war, lässt sich aus verschiedenen Gründen schließen: nach seinem eigenen Bericht, lagen Cicero keine Reden aus dem Zeitalter des Alkibiades und Kritias vor[2]; Andokides wird in den uns erhaltenen Schriften Ciceros nirgends erwähnt (dasselbe gilt für Isaios)[3]; da die Rhetoren der späten Republik und der frühen Kaiserzeit keine Stelle aus seinen Reden zitieren, gehörte er offenbar nicht zu denjenigen attischen Rednern, die im rhetorischen Unterricht der Zeit Ciceros gelesen oder interpretiert wurden[4]; darüber hinaus, weil seine Beredsamkeit weder von den antiken Autoren noch in der modernen Forschung hoch geschätzt wird[5], wie kann man ihn als ein Vorbild für einen so erfolgreichen und begabten Redner wie Cicero sich vorstellen? Unter diesen Voraussetzungen soll eine Nachwirkung von Andokides in Ciceros Reden nicht in Frage kommen[6]. Doch trotz aller Beweise zum Gegenteil scheint Cicero einige Aussagen den Reden des Andokides nachgebildet zu haben. Der vorliegende kurze Beitrag beschäftigt sich damit, ob die gerade erwähnten Cicerostellen von diesen des griechischen Redners direkt abhängen oder nicht. Wenn letzteres stimmt, dann werden wir versuchen, die Wesensart dieser Abhängigkeit näher zu klären.

Hinsichtlich der Übereinstimmungen und Abweichungen zwischen Cicero- und Andokidesstellen läuft die folgende Studie nach der von Alfons Weische festgelegten Vorgehensweise, der sowohl den gedanklichen Inhalt als auch die sprachliche Form der beiden Texten berücksichtigt, ab. Des Weiteren unterscheidet er zwischen zwei Ziele der Nachahmung: 1) „Der Redner bedient sich eines Gedankens oder einer Wendung […] um mit diesem Mittel sein prozessuales oder politisches Ziel zu erreichen“; 2) „Der Redner will gegenüber dem gebildeten Hörer oder Leser seiner Rede eine gewisse Eleganz durch den Schmuck mit literarischen Reminiszenzen entfalten“[7]. Die zweite der genannten Möglichkeiten können wir im Voraus ausschließen, zumal sogar im Ciceros Falle die unmittelbare Kenntnis von Andokides, wie bereits festgestellt wurde, sehr umstritten ist[8]. Davon ausgehend, indem wir drei Stellen aus dem Werk des frühen attischen Redners mit einigen Aussagen Ciceros vergleichen, nehmen wir Rücksicht auf ihren gedanklichen Inhalt, sprachliche Form, und prozessuales bzw. politisches Ziel. Obwohl im Folgenden von einer Nachahmung oder einem Einfluss des Öfteren die Rede ist, sollen derartige Äußerungen, die wir nur um des Arguments willen formulieren, cum grano salis angenommen werden.

And. 1.148 – Verr. 2.1.94
And. 1.148: μὴ τοίνυν, εἰ αὐτοὶ τεθνᾶσι, καὶ περὶ τῶν πεπραγμένων αὐτοῖς ἐπιλάθησθε, ἀλλ’ ἀναμνησθέντες τῶν ἔργων νομίσατε τὰ σώματα αὐτῶν ὁρᾶν αἰτουμένων ἐμὲ παρ’ ὑμῶν σῷσαι.
Verr. 2.1.94: Quid exspectas? an dum ab inferis ipse Malleolus exsistat, atque abs te officia tutelae, sodalitatis familiaritatisque flagitet? Ipsum putato adesse.

Im Epilog seiner Rede De mysteriis weist Andokides auf die Verdienste seiner Vorfahren gegenüber der Stadt hin und ermuntert die Richter, sich einzubilden, man könne jene Menschen, obwohl sie tot sind, ansehen und auf den Freispruch ihres Nachkommens plädieren. Zwar geht Cicero einen Schritt weiter, indem er den Vater des jüngeren Malleolus von den Toten auferstehen lässt, damit er dem Angeklagten seine Pflichten vorhält, doch sind die beiden Stellen dadurch verbunden, dass die Verstorbenen vom Redner dazu aufgerufen werden, sich für ihren Nachkommen einzusetzen.

Das griechische αἰτέομαι wurde von Cicero durch eine Wendung (ab aliquo flagitare) ersetzt, die seinem römischen Publikum nahelegen könnte, dass es sich um eine aus der Volksjustiz entsprungene flagitatio handelt[9]. Um solcher Darstellung mehr Anschaulichkeit zu verleihen, hat Cicero seinen Aufruf in Form einer direkt an Verres gerichteten Frage ausgedrückt. Eine Nachwirkung von der Andokidesstelle ist am deutlichsten am Ende des oben zitierten Textes erkennbar: dem Imperativ νομίσατε entspricht das putato; mit ipsum im Singular kommt bei Cicero dasselbe zum Ausdruck, was im Griechischen mit dem Plural τὰ σώματα αὐτῶν (d.h. eine Periphrase für αὐτούς[10]) wiedergegeben wird; anstelle des aktiven Infinitivs eines Transitivum ὁρᾶν steht der lateinischen Syntax gemäß ein intransitives Verbum adesse. In Verr. 2.1.94 haben wir mit der rhetorischen εἰδωλοποιία zu tun, einer Unterart der Prosopopoiie[11], die selten, wenn überhaupt, bei den attischen Rednern vorkommt[12]. Da And. 1.148 unter den uns erhaltenen griechischen Texten[13] dem römischen Topos mortuos ab inferis excitare am nächsten kommt und außerdem sprachliche Ähnlichkeiten zur Cicerostelle aufweist, muss mit der Möglichkeit gerechnet werden, dass Cicero von Andokides irgendwie abhängig ist[14]. Diese Behauptung wird nicht dadurch weniger wahrscheinlich, dass der letztere darauf zielt, die Sympathie der Richter zu gewinnen, während der erstere sich darum bemüht, Hass (invidia) gegen Verres zu schüren[15].

And. 1.137–139 – Man. 31, Mil. 85–86
And. 1.137–139: Κατηγόρησαν δέ μου καὶ περὶ τῶν ναυκληριῶν καὶ περὶ τῆς ἐμπορίας, ὡς ἄρα οἱ θεοὶ διὰ τοῦτό με ἐκ τῶν κινδύνων σῴσαιεν, ἵνα ἐλθὼν δεῦρο, ὡς ἔοικεν, ὑπὸ Κεφισίου ἀπολοίμην. ἐγὼ δέ, ὦ Ἀθηναῖοι, οὐκ ἀξιῶ τοὺς θεοὺς τοιαύτην γνώμην ἔχειν, ὥστ’ εἰ ἐνόμιζον ὑπ’ ἐμοῦ ἀδικεῖσθαι, λαμβάνοντάς με ἐν τοῖς μεγίστοις κινδύνοις μὴ τιμωρεῖσθαι. τίς γὰρ κίνδυνος μείζων ἀνθρώποις ἢ χειμῶνος ὥρᾳ πλεῖν τὴν θάλατταν; […] (138) οὐκ ἐξῆν αὐτοῖς ποιῆσαι μηδὲ ταφῆς τὸ σῶμα ἀξιωθῆναι; ἔτι δὲ πολέμου γενομένου καὶ τριήρων ἀεὶ κατὰ θάλατταν οὐσῶν καὶ λῃστῶν, ὑφ’ ὧν πολλοὶ ληφθέντες, ἀπολέσαντες τὰ ὄντα, δουλεύοντες τὸν βίον διετέλεσαν […], (139) εἶτα οἱ μὲν θεοὶ ἐκ τοσούτων κινδύνων ἔσῳζόν με, σφῶν δὲ αὐτῶν προὐστήσαντο τιμωρὸν γενέσθαι Κηφίσιον […]; […] εἴπερ οὖν δεῖ τὰ τῶν θεῶν ὑπονοεῖν, πάνυ ἂν αὐτοὺς οἶμαι ἐγὼ ὀργίζεσθαι καὶ ἀγανακτεῖν, εἰ τοὺς ὑφ’ ἑαυτῶν σῳζομένους ὑπ’ ἄλλων ἀπολλυμένους ὁρῷεν.
Man. 31: Quis enim toto mari locus per hos annos aut tam firmum habuit praesidium ut tutus esset, aut tam fuit abditus ut lateret? Quis navigavit qui non se aut mortis aut servitutis periculo committeret, cum aut hieme aut referto praedonum mari navigaret?
Mil. 85–86: Non est humano consilio, ne mediocri quidem, iudices, deorum immortalium cura res illa perfecta. […] (86) Nisi forte hoc etiam casu factum esse dicemus ut ante ipsum sacrarium Bonae deae, […] ante ipsam, inquam, Bonam deam, cum proelium commisisset [sc. P. Clodius], primum illud volnus acciperet quo taeterrimam mortem obiret, ut non absolutus iudicio illo nefario videretur, sed ad hanc insignem poenam reservatus.

Kurz vor dem Epilog beschäftigt sich Andokides mit dem Vorwurf, er hätte sich während seinem Exil an den Seehandel (περὶ τῶν ναυκληριῶν καὶ περὶ τῆς ἐμπορίας) bereichert. Dies hat ihm Anlass gegeben, über die Seegefahren, denen er begegnet hatte, zu erörtern und seine Rettung den Göttern zuzuschreiben. Cicero hatte die Gelegenheit, sich an diese Stelle in zwei Reden anzuknüpfen: in der Maniliana erwähnt er nämlich dieselben Seegefahren indem er den Sieg des Pompeius über die Seeräuber rühmt; nach Cic. Mil. 85–86 dagegen verdankt Clodius seinen Freispruch im Bona Dea-Prozess den Göttern, die ihn bewahrt haben, damit er an der Via Appia endlich bestraft werden kann.

Jeder der beiden Redner schildert die allgemeine Gefährdung zur See[16] und zählt dabei die bestimmten Bedrohungen auf: Seefahrt im Winter (χειμῶνος ὥρᾳ πλεῖν τὴν θάλατταν ~ hieme navigaret); Seeräuber (λῃστῶν [sc. ὄντων] ~ referto praedonum mari)[17]; Furcht vor Gefangenschaft (πολλοὶ ληφθέντες […] δουλεύοντες τὸν βίον διετέλεσαν ~ servitutis periculo). Was Andokides aber in einer langen, im persönlichen Ton verfassten Erzählung überliefert hat, wurde von Cicero Man. 31 in einem kurzen, mit Anaphern gefüllten Satz umgefasst[18]. Im oben zitierten Abschnitt hat Andokides seine Rettung durch die schützende Göttermacht mehrmals hervorgehoben (οἱ θεοὶ […] με […] σῴσαιεν; οἱ μὲν θεοὶ […] ἔσῳζόν με, usw.) als Beweis dafür, dass er an sie kein Verbrechen verübt hatte[19]. In ähnlicher Weise wird das Schicksal des Clodius von Cicero in der Miloniana der göttlichen Vorsehung zugeschrieben (deorum immortalium cura res illa perfecta). Die Cicerostelle setzt sich von And. 1.137–139 dadurch ab, dass laut dem römischen Redner Clodius erst während der Untersuchung des Religionsfrevels freigesprochen wurde[20] (d.h. von den Göttern reservatus), damit er von Milo, „einem Agent des göttlichen Willens“[21], hingerichtet wird. Anders gesagt wird hierbei das Gericht dem menschlichen, und das sacrarium Bonae deae, wo Clodius ums Leben gekommen ist, dem göttlichen Fachgebiet zugeordnet. Dieselbe Abhängigkeit besteht bei Andokides zwischen dem Gericht und der See (§ 139): ἐγὼ μὲν οὖν […] ἡγοῦμαι χρῆναι νομίζειν τοὺς τοιούτους κινδύνους [= den Strafprozess] ἀνθρωπίνους, τοὺς δὲ κατὰ θάλατταν θείους. Demnach hätten ihn die Götter nur darum gerettet, um ihn vor Gericht zu stellen? Hätte Cicero diesen Teil der Rede De mysteriis tatsächlich gelesen, könnte sich auch das Bild eines ἄταφος, der auf See gestorben ist (οὐκ ἐξῆν αὐτοῖς ποιῆσαι μηδὲ ταφῆς τὸ σῶμα ἀξιωθῆναι;), seinem Gedächtnis einprägen. Da die Freunde des Clodius seinen Leichnam mitsamt der Curie zu verbrennen ließen, bezeichnete Cicero ihn als einen insepultus[22].

And. 2.8–10 – Sest. 42–49
And. 2.8–10: Ἐγὼ τοίνυν ἐκ τῶν παρόντων εἱλόμην ταῦτα, ἃ ἐμοὶ μὲν λύπας ἐπὶ χρόνον πλεῖστον οἴσειν ἔμελλεν, ὑμῖν δὲ ταχίστην τοῦ παρόντος τότε κακοῦ μετάστασιν. […] (9) ὄντων γὰρ κακῶν τοσούτων τῇ πόλει ἀδύνατον ἦν ταῦτα ἰαθῆναι ἄλλως ἢ τῷ ἐμῷ αἰσχρῷ, ὥστ’ ἐν αὐτῷ ᾧ ἐγὼ κακῶς ἔπραττον, ἐν τούτῳ ὑμᾶς σῴζεσθαι. […] (10) ἔγνων ἥδιστον εἶναι πράττειν τε τοιαῦτα καὶ διαιτᾶσθαι ἐκεῖ, ὅπου ἥκιστα μέλλοιμι ὀφθήσεσθαι ὑφ’ ὑμῶν.
Sest. 42–48: (45) De quo te, te, inquam, patria, testor et vos, penates patriique dei, me vestrarum sedum templorumque causa, me propter salutem meorum civium, quae mihi semper fuit mea carior vita, dimicationem caedemque fugisse. […] (49) Servavi igitur rem publicam discessu meo, iudices: caedem a vobis liberisque vestris, vastitatem, incendia, rapinas meo dolore luctuque depuli, et unus rem publicam bis servavi, semel gloria, iterum aerumna mea.

In der Rede über seine Rückkehr hatte Andokides mehrere Gelegenheiten, seine Beweggründe zu verteidigen. Am Anfang der oben angeführten Stelle teilt der griechische Redner der Volksversammlung der Athener mit, er hätte zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen: entweder die Stadt in größere Bedrängnis zu bringen oder sich selbst dem Unglück auszusetzen. Als Cicero Sest. 42–49 die Umstände seiner Verbannung[23] beleuchtete, drückte er ähnlichen Gedanken und Gefühle aus. Weder Andokides noch Cicero waren rechtlich dazu verpflichtet, sein Vaterland zu verlassen, doch beide haben sich dafür – zumindest nach ihrer eigenen Ansicht – für das Allgemeinwohl entschieden[24].

Bei diesen Stellen ist die Nachwirkung des attischen Redner auf Cicero bis jetzt am wenigstens nachweisbar, weil ihre Aussagen in hohem Ausmaß durch die geschichtlichen Zusammenhänge bedingt waren. Die Verschiedenheit des lateinischen Textes vom griechischen entsteht daher, dass Cicero von seiner Leistung mehr als Andokides[25] überzeugt war: dem konsekutiven ὑμᾶς σῴζεσθαι[26] entspricht das in der ersten Person Singular stehende servavi; auch das einfache τῷ ἐμῷ αἰσχρῷ wurde mit einer Synonymenhäufung (discessu meo, dolore luctuque, aerumna mea) ersetzt[27]. Vom gedanklichen Inhalt her stimmt Sest. 42–49 mit And. 2.8–10 darin überein, dass der Redner dazu bereit ist, jedes Leid zu ertragen um die Stadt zu retten[28]. Da ähnliche Betrachtungen auch in anderen autobiographischen Passagen der Reden Ciceros zum Ausdruck kommen[29], können wir darauf schließen, dass es sich nicht so sehr um eine unmittelbare Abhängigkeit als vielmehr um denselben Topos handelt. Soll dies aber als ein Gemeinplatz gelten, so ist die Rede De reditu suo des Andokides, mit dessen Lebenslauf Cicero sich identifizieren konnte[30], als sein rednerisches Vorbild anzunehmen.

***

In keiner der oben besprochenen Parallelstellen ist eine direkte Nachahmung unumstritten. Zwar zeigt Verr. 2.1.94 in der sprachlichen Form gewisse Ähnlichkeiten zum And. 1.148 auf, doch wird die Totenbeschwörung von Cicero an den römischen kulturellen Kontext angepasst: er spielt nämlich auf die sog. flagitatio an und bedient sich einer εἰδωλοποιία im weiteren Sinne. Da diese Art von gewagtem Ausdrucksmittel erst von den hellenistischen Rednern verwendet wurde, konnte Cicero die von Andokides gebrauchte Sinnfigur indirekt aus einer späteren, jetzt nicht mehr erhaltenen Rede übernehmen[31]. Was den Vergleich zwischen And. 1.137–139 und Cic. Man. 31 angeht, so ist zu bemerken, dass auch wenn die sich auf die Seegefahren beziehende Übereinstimmungen als ein Zufallswerk betrachten werden, das Motiv der göttlichen Intervention in der Miloniana auf Ciceros Kenntnisse von der Andokidesstelle schließen lässt. Es deutet demnach vieles darauf hin, dass der römische Redner mindestens mit den Schlussteilen der Rede De mysteriis vertraut war[32]. Abschließend scheint es aufgrund der zahlreichen Parallelen mit der Rückkehrrede des Andokides in den von Cicero nach seinem Exil gehaltenen Reden eine engere thematische Verwandtschaft zwischen den beiden Rednern zu bestehen[33].

Wie lässt es sich erklären, dass Cicero sowohl in sprachlicher Form wie auch in gedanklichem Inhalt dem Andokides ganz eng zu folgen scheint, ohne ihn ein einziges Mal in seinen Schriften zu erwähnen? Zwei Möglichkeiten halten wir für wahrscheinlichste: 1) Entweder waren dem römischen Redner gewisse Wendungen, bzw. thematische Gemeinplätze, die in den Reden des Andokides vorkommen, nur aus einer indirekten Überlieferung bekannt, 2) oder Cicero scheut sich davor, auf seine Kenntnisse vom am wenigsten geschätzten der zehn attischen Redner hinzuweisen. Zwar vertritt die überwiegende Mehrheit der Forscher die Ansicht, Cicero wäre mit dem Kanon der zehn attischen Redner nicht vertraut[34], doch hat T. Ricchieri überzeugende Gründe für die These vorgebracht[35], dass am Ende des Brutus es sich um einen gleichartigen, dem griechischen entsprechenden „Kanon“ der zehn römischen Redner handelt. In gewissem Maße kann für Ciceros Abhängigkeit von Andokides auch die Tatsache sprechen, dass außer denen des Demosthenes und der Rede De pace des Andokides Cicero nur wenige griechische (bzw. attische) Vorbilder für eine Staatsrede zur Verfügung hatte[36]. Unabhängig davon, ob es sich um bewusste Entlehnungen aus dem Werk des Andokides handelt oder nicht[37], war Cicero vor allem damit beschäftigt, mittels einer geprüften Formulierung sein prozessuales oder politisches Ziel zu erreichen. Während die Frage, ob Andokides für Cicero vorbildlich war also offen bleibt, sollen wir unsere Ansichten in Bezug auf die Bedeutung des attischen Redners für die Geschichte der antiken Redekunst überdenken.

Anhang

Angesichts der Tatsache, dass sowohl in Ciceros Falle wie in diesem seiner griechischen Vorbilder nur eine Auswahl von Texten erhalten ist (Weische 1972: 163), werden wir niemals imstande sein, Ciceros Verhältnisse zu den attischen Rednern voll und ganz zu erläutern. Es ist auch unvermeidlich, dass eine Vielzahl von denjenigen, mehr oder weniger direkten Entlehnungen, die wir „vor Augen“ haben, ohnehin unserer Aufmerksamkeit entgehen können. Da aber derartige Vergleichsversuche zum besseren Verständnis nicht nur der ciceronischen Beredsamkeit sondern auch der geistesgeschichtlichen Beziehungen, die den verschiedenen Nachahmungsformen zugrunde liegen, beitragen, werden wir auf zwei andere, den attischen Rednern entnommene (bisher unbemerkt gebliebene) Stellen, auf die wir während unserer Forschungen über die rhetorische Totenbeschwörung und die exempla externa in Ciceros Reden gestoßen sind[38], hinweisen.

Dem. 3.23 – Verr. 4.73
Dem. 3.23: ἔσται δὲ βραχὺς καὶ γνώριμος ὑμῖν ὁ λόγος‧ οὐ γὰρ ἀλλοτρίοις ὑμῖν χρωμένοις παραδείγμασιν, ἀλλ’ οἰκείοις, ὦ ἄνδρες Ἀθηναῖοι, εὐδαίμοσιν ἔξεστι γενέσθαι.
Verr. 4.73: videte hominis virtutem et diligentiam, ut et domesticis praeclarissimae virtutis exemplis gaudeatis et eo maiore odio dignam istius incredibilem audaciam iudicetis.

Den heimischen Beispielen (οἰκεῖα παραδείγματα, bzw. exempla domestica) wird hier von Demosthenes ein Vorrang vor den ausländischen (ἀλλότρια, externa) eingeräumt[39]. Was aber Demosthenes allgemein ausgedrückt hat (Ähnlich Dem. 13.21), verwendet Cicero (ohne zwischen zwei Kategorien von exempla zu unterscheiden) dazu, die Großzügigkeit des Scipio Aemilianus[40] der Habsucht des Verres gegenüberzustellen. Statt dem Dativ mit dem Infinitiv (ὑμῖν… εὐδαίμοσιν… γενέσθαι), wie es die Eigenart der lateinischen Sprache verlangt, gebraucht Cicero einen Finalsatz (utgaudeatis). Da die außergewöhnliche Wendung exemplis gaudere nirgendwo anders bei Cicero vorkommt, zeigt sich, dass der römische Redner hier die Demosthenesstelle nachgeahmt hat.

Aesch. 3.153 – Balb. 47
Aesch. 3.153: Γένεσθε δή μοι μικρὸν χρόνον τὴν διανοίαν μὴ ἐν τῷ δικαστηρίῳ, ἀλλ’ ἐν τῷ θεάτρῳ, καὶ νομίσαθ’ ὁρᾶν προϊόντα τὸν κήρυκα, κτλ.
Balb. 47: Exsistat ergo ille vir [sc. C. Marius] parumper cogitatione vestra, quoniam re non potest, ut conspiciatis eum mentibus, quoniam oculis non potestis; dicat se, etc.

Mithilfe der rhetorischen Figur des Vor-Augen-Stellens (ἐνάργεια, lateinisch evidentia, bzw. sub oculos subiectio) lässt Aischines den Zuhörern sich vorstellen, sie seien nicht im Gerichtshof, sondern im Theater, und ein Herold trete auf. In ähnlicher Weise, und auch, um seiner Aussage mehr Anschaulichkeit zu verleihen (Barber 2004: 37 und passim), lässt Cicero dem Marius selbst, als einer unumstrittenen Autorität im militärischen Gebiet, im Sinn der Richter wieder aufzuleben und seine Auffassung vorzutragen. Das parumper[41] cogitatione scheint eine genaue Übersetzung vom griechischen μικρὸν χρόνον τὴν διανοίαν zu sein und darüber hinaus entspricht der Finalsatz (ut conspiciatis…) der mit dem Imperativ νομίσαθ’ ὁρᾶν ausgesprochenen Aufforderung. Da der Gebrauch der Prosopopoiie unter den Römern wesentlich mehr verbreitet war (vgl. oben, etwa Anm. 10–12, 30), hat Cicero dieser Neigung und seinem prozessualen Ziel entsprechend die ihm vorliegende Aischinesstelle geändert. Umso wahrscheinlicher ist die Nachwirkung vom attischen Redner, dass die Rede gegen Ktesiphon, als ein Gegenstück zur Kranzrede des Demosthenes, sogar im rhetorischen Unterricht gelesen werden konnte und Cicero außer dem oben zitieren Text dieser Rede drei anderen Stellen nachgebildet hat[42].


* Dr Damian Pierzak – is former Assistant Professor of Classics at the University of Silesia in Katowice, Poland. After obtaining his PhD in 2015 he carried out a research project “Arguments from the Past in Cicero’s Orations. Theory and Practice” as part of the SONATA 12 competition, which was completed in early 2021. His main research interest are Roman oratory and Latin literature of the Republican period. He is the author of numerous articles and two monographs: Ab inferis ad rostra. Przywoływanie zmarłych w retoryce rzymskiej okresu republikańskiego, Katowice 2019 and Exempla externa in Cicero’s orations. A Rhetorical Approach, Berlin 2021.

e-mail: d.a.pierzak@gmail.com



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Weische, A. (1972). Ciceros Nachahmung der attischen Redner. Heidelberg: Carl Winter.

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Zimmermann, B. (2002). “Exil und Autobiographie”. A&A 48. 187–195. https://doi.org/10.1515/9783110241600.187


Fußnoten

  1. Ich bedanke mich bei den anonymen Gutachtern der Collectanea Philologica für wertvolle Hinweise und sprachliche Verbesserungen. Ein großes Dank geht zudem an Dr. Tommaso Ricchieri, der mir seinen Aufsatz über den „Kanon“ der zehn römischen Redner (2016) zur Verfügung stellte. Mein Besonderer Dank gilt auch Herrn Prof. Jan Kucharski, einem großen Kenner der griechischen Beredsamkeit, der diesen Text gelesen und kritisch kommentiert hat. Selbstverständlich bin ich für alle Fehler und Unrichtigkeiten selbst verantwortlich.
  2. S. Cic. Brut. 29; dazu Douglas 1966: xlv–xlvi; 1973: 103–104 und Fleck 1993: 234. Vgl. Cic. De or. 2.93.
  3. S. Douglas 1956: 33; 1973: 105; Laughton 1961: 29; Weische 1972: 133; Ptaszek 2002: XXIII; Ricchieri 2016: 677, Anm. 53: „mancano del tutto riferimenti ad Andocide e Iseo“.
  4. S. Weische 1972: 113–144. Vgl. allerdings unten, Anm. 31.
  5. S. vor allem D.H. Lys. 2; Hermog. Id. 2.11 (S. 403 Rabe); Philostr. VS 2.1.565; Ps. Plut. Mor. 835b; vgl. Quint. Inst. 12.10.21 und dazu z.B. Douglas 1956: 37; MacDowell 1962: 18–23; Kennedy 1963: 147–148; Ptaszek 2002: XXII–XXVI, und Usher 1999/2007: 42, dem Edwards 2016: 19–20 folgt.
  6. Erwartungsgemäß ist die neuere Forschung in diesem Bereich fast ausschließlich an den Vergleich Ciceros mit Demosthenes ausrichtet und insbesondere in Bezug auf die Verrinen (Tempest 2007 und 2019) und die Philippischen Reden (Stroh 1982; Wooten 1983).
  7. Nr. 1 ist also für das Primär-, Nr. 2 für das Sekundärpublikum bestimmt. Für eine ausführliche Erörterung siehe Weische 1972: 12–13, 145–157 und passim. Vgl. die Besprechung bei Tempest 2007: 20–21.
  8. Im allgemeineren Sinne haben die attischen Redner (darunter auch Andokides) und Cicero viele rhetorischen Strategien miteinander gemein. Was Cicero und Andokides angeht, beide Redner bedienen sich von einer Verschmelzung von Erzählung und Beweis (Andokides in der Mysterienrede und Cicero z.B. in der Cluentiana; vgl. Stroh 1975: 212 mit Anm. 66); beide machen einen seiner Gegner wegen einer geringen Herkunft verächtlich (s. And. Fr. 3.2 und die Cicerostellen bei Achard 1981: 213–220; vgl. Süss 1910/1975: 247–248; Opelt 1979: 214–215; Edwards 2016: 23); in den politischen Reden der beiden kommen die historischen Beispiele häufig vor (s. And. 3.3–12, 28–32, 37–39; vgl. Edwards 2016: 20–22 und Cic. Leg. Agr. 1.20, 2.95, Man. 14, 55, usw.; vgl. Bücher 2006: passim, z.B. S. 228–237; van der Blom 2010) – um hier nur drei Beispiele zu nennen.
  9. Die sog. flagitatio bestand darin, dass die Gläubiger einen Schuldner auf dem Markt bedrängten, die Schulden zurückzuzahlen. S. Pl. Epid. 118, Mos. 603–605, Ps. 1145; Catul. 42.10–12; Cic. Q. fr. 2.10.1 = 14 SB; dazu Corbeill 1996: 19–20 und Habinek 2005: 76–77. Diese Stelle habe ich bereits in Pierzak 2019: 110–117 (mit weiterer Literatur) näher besprochen.
  10. Vgl. LSJ, s.v. σῶμα II 1; Schwyzer, Debrunner 1950, 211, usw. Es muss aber betont werden, dass die σώματα in einer antithetischen Beziehung zu den ἔργα stehen.
  11. Vgl. Stroh 1975: 282; Mitchell 1986: 200–201 zur St.: „summoning witnesses from the dead to speak directly was a bold form of the device of impersonation (prosopopoeia) associated with the grand style and highly regarded by Cicero as a tool of persuasion. Cf. Orator 85. Brut. 322. Cael. 33–38. Fin. 4.61. Quint. 9.2.29–37; 11.1.39; 12.10.61. Ad Her. 4.66. In this case, however, Cicero wanted only to imagine Malleolus present“. Zur rhetorischen Totenbeschwörung s. vor allem Dufallo 2001 und 2007: 13–73; Pierzak 2019.
  12. S. Weische 1972: 175; Westwood 2017: 58: „we find no eidōlopoeia – no speaking ghosts – in extant Classical Athenian oratory“. Hierbei müssen wir jedoch berücksichtigen, dass Verr. 2.1.94 als eine eidōlopoeia im engeren Sinne nicht gilt (vgl. die vorige Anm.).
  13. Vgl. auch Dem. 27.69; Aesch. 3.153, 259 und dazu Jost 1936: 36, 152 („oder sie [d.h. die Vorfahren] werden in Prosopopoiie heraufzitiert, um in einer bestimmten Sache ihr Urteil abzugeben, wie wir es bisher in der Komödie, bei Herodot [7, 159] und Andokides [1, 148] getroffen haben“; vgl. Anm. 3); Usher 1999/2007: 45 und Anm. 13; Dufallo 2007: 130, Anm. 1: „Andocides asks his audience to envision his own ancestors pleading for him“; Edwards 2013: 21–22.
  14. Bemerkenswert ist auch, dass der ältere Malleolus als eine stumme Person (persona muta) auftritt, was an eine Theateraufführung erinnern konnte. Wie Tempest (2019: 221–228) kürzlich gezeigt hat, erscheinen Ciceros Erzählungen über Heraclius, Epicrates, und Sthenius (die von Verres zum Schweigen gebracht wurden) in Verr. 2.2 einer Demosthenesstelle (21.95 mit Scholien [S. 321 Dilts]) nachgebildet zu sein. Vielleicht ist das ebenfalls in unserer Passage der Fall.
  15. S. Kaster 2005: 97–98; Tempest 2013: 64.
  16. Vgl. Classen 1985: 290. Kurz darauf (§ 33) weist Cicero auf die Bedrohung Roms durch die Seeräuber hin, indem er die von ihnen bedrängte Orte nennt: zunächst die drei weit entfernte, dann diese in unmittelbarer Nähe der Stadt; die letztere um zu zeigen, dass man sogar in der Nähe der Stadt gegen die Räubereien machtlos ist. Diese Stelle hat Cicero Dem. Phil. 1.34 nachgebildet (Weische 1972: 55–56; vgl. Classen 1985: 290, Anm. 74).
  17. Vgl. Heftner 1995: 186 zu Plut. Pomp. 25.1: „Um den Piraten auszuweichen, nahmen manche Schiffer sogar die Gefahren einer Seereise im Winter auf sich (Cic., de imp. 31f.; allerdings waren nach Dio XXXVI 21,2 auch die Piraten selbst während des Winters aktiv)“.
  18. S. Classen 1985: a. a. O.; MacKendrick 1995: 21.
  19. Usher (1999/2007: 49) vergleicht And. 1.137–139 mit Antiph. 5.81–83.
  20. Vgl. z.B. Benner 1987: 38–40; Tatum 1999: 80–82.
  21. S. Neumeister 1964: 96; May 1988: 135–137.
  22. Cic. Mil. 86: Nec vero non eadem ira deorum hanc eius satellitibus iniecit amentiam ut sine imaginibus, sine cantu atque ludis, sine exsequiis, sine lamentis, sine laudationibus, sine funere, oblitus cruore et luto, spoliatus illius supremi diei celebritate cui cedere inimici etiam solent ambureretur abiectus. Zur Bestattung des Clodius auf dem Forum s. ferner Asc. Mil. 32–33 C; App. BC2.77–78; D.C. 40.49.1–3 (bes. § 2: […] καὶ μήτε τοῦ ὁσίου μήτε τοῦ θείου ἔτι φροντίσαι [sc. τὸν ὅμιλον], ἀλλὰ πάντα μὲν τὰ περὶ τὰς ταφὰς νόμιμα συγχέαι, πᾶσαν δὲ ὀλίγου τὴν πόλιν καταπρῆσαι); dazu Benner 1987: 102; Tatum 1999: 241.
  23. Immer wenn Cicero auf seine Verbannung hinweist, vermeidet er das Wort „Verbannung“ (exilium). Stattdessen verwendet er die Umschreibungen wie discessus oder calamitas. Vgl. dazu Kurczyk 2006: 217–218; Boll 2019, 234 zu Red. Sen. 36; Pierzak 2021: 194, Anm. 100 (mit Hinweisen auf frühere Literatur).
  24. So stehen sie vor einem (rhetorischen) Dilemma, mithilfe dessen sie ihr vergangenes Handeln zu rechtfertigen suchen. S. dazu Craig (1993: 23; 178, Anm 24), der auch auf Planc. 88–89 und Dom. 91 hinweist; als andere Beispiele des Dilemmas bei den attischen Rednern führt er Antiph. 2 β 3 und Isoc. 17.6, 10 an.
  25. Vgl. allerdings And. 2.8 ad fin.: ταῦτα τοίνυν ὥστε μὲν γενέσθαι τοιαῦτα, πολλοστὸν δή τι ἐγὼ μέρος τῆς αἰτίας ηὑρέθην ἔχων, ὥστε μέντοι παυθῆναι, ἐγὼ εἷς ὢν μόνος αἴτιος; dazu Usher 1999/2007: 42–44.
  26. Hierbei ist es erwähnenswert, dass diese Konstruktion (d.h. das ὥστε mit dem Infinitiv) von einer möglichen, und nicht einer tatsächlichen Folge gebraucht wird.
  27. Zur Ciceros Vorliebe für Synonymenhäufungen vgl. Weische 1972: 158 und passim. Nach der Ansicht von Prof. Jan Kucharski bezieht sich die Formulierung τῷ ἐμῷ αἰσχρῷ mehr darauf, dass Andokides dazu gezwungen war, einige Mitglieder seiner Hetairie zu denunzieren.
  28. Vgl. Kurczyk 2006: 234–236 (zu § 49 bes. S. 236: „In diesem kurzen Abschnitt sind die wichtigsten Elemente des propagierten Selbstbildes Ciceros enthalten: Die gleich zweifache Rettung des Staates, die Einzigartigkeit dieser Leistung (unus) sowie Selbstopferung, Ruhm und Kummer als Ertrag“).
  29. Vgl. z.B. Har. Resp. 49, Dom. 76, 97–99, usw. Auf weitere Parallelen mit der Rückkehrrede weist Zimmermann (2002: 194) hin. Zum Topos des Märtyrertum in Ciceros Reden (besonders in diesen Post reditum) s. Boll 2019: 48, 61 und jetzt Kenty 2020: 82–102.
  30. Ähnlich wie Andokides, der „wegen des Dekrets des Isotimides [vielleicht an Andokides persönlich gerichtet; vgl. Usher 1999/2007: 42, Anm. 3], das allen, die sich eines religiösen Vergehens (ἀσέβεια) schuldig machten, verbot, die Tempel und die Agora zu betreten“ (Zimmermann 2002: 192), ins Exil nach Zypern ging, verließ Cicero freiwillig die Heimat infolge von der Verkündung vom clodianischen Gesetz de capite civis Romani, wo sein Name nicht genannt war (vgl. z.B. Gelzer 1969: 135–136).
  31. In der Einleitung von Vaterland als einer sprechenden Person (bes. Cat. 1.18, 27) konnte Cicero etwa dem hellenistischen Redner Charisios folgen. S. Rut. Lup. 2.6 (RLM, S. 15). Vgl. [Demetr.] Eloc. 265 Radermacher: Παραλαμβάνοιτο δἂν σχῆμα διανοίας πρὸς δεινότητα <> προσωποποιΐα καλουμένη, οἷονδόξατε ὑμῖν τοὺς προγόνους ὀνειδίζειν καὶ λέγειν τάδε τινὰ τὴν Ἑλλάδα τὴν πατρίδα, λαβοῦσαν γυναικὸς σχῆμα; Weische 1972: 175. S. auch Stroh 1982: 20–22 zu Phil. 13.6, wo Cicero einen Gedanken aus der Kranzrede des Demosthenes in den Mund der personifizierten Sapientia legt.
  32. Zumal wir jetzt wissen, dass ein Stück aus dieser Rede (§ 70) auf einem Papyrus (P. Wash. Univ. II 65), der aus dem dritten oder vierten Jahrhundert n. Chr. stammt, erhalten ist (s. Maresch, Packman 1990: 13–14; zur Datierung vgl. Orsini 2005: 134–135). Daraus kann man herleiten, dass diese Rede in der späten Antike eine gewisse Popularität genoss. Vgl. Weische 1972: 130–133.
  33. Vgl. Gaertner 2007: 9, Anm. 44; 14.
  34. Der bekannteste Vertreter dieser Meinung ist vermutlich A.E. Douglas, der sich in zahlreichen Beiträgen (vor allem 1956; 1973: 107–108; vgl. 1966: 27 zu Cic. Brut. 36.9 und 211 zu § 286.20) gegen Ciceros Kenntnis des Kanons wandte. Auch für Heldmann 1982: 133–134 Cic. Brut. 32–36, wo acht griechische Redner in einer nur zufällig chronologischen Reihenfolge genannt werden, spricht dagegen, dass Cicero den „Zehnerkanon“ gekannt hätte. Dieser Ansicht folgte auch Worthington (1994: 250–251), der die Schaffung des Kanons der zehn Redner dem Caecilius von Kalakte zuschrieb. Ricchieri (2016: 674–676 mit Hinweisen auf weitere Literatur) fasst den Forschungstand über den Kanon kurz und bündig zusammen.
  35. Vgl. Ricchieri 2016: passim, bes. S. 671–674, 685–688.
  36. S. Edwards 2016: 20 und passim. Edwards, wie mir Herr Prof. Jan Kucharski mitteilt, lässt aber die Reden Περὶ τοῦ Πολύευκτον στρατηγεῖν (fr. 155–157 Jensen) und Περὶ τῆς φυλακῆς τῶν Τυρρηνῶν (fr. 166–167 Jensen) des Hyperides außer Betracht. Zwar weist einer der anonymen Gutachter zu Recht darauf hin, dass Cicero auch mit den Reden des Isokrates vertraut war, doch fraglich ist, ob irgendeine von denen als eine Staatsrede im wahrsten Sinne des Wortes betrachtet werden kann.
  37. Vgl. Stroh 1982: 7 (dazu die von C.J. Classen in der einschlägigen Diskussion angeführte Unterscheidung der drei Typen der Nachahmung, d.h. die unbewusste, die bewusste und die bewusst-machende) und jetzt die Festlegungen von Tempest (2019: 220) anlässlich der Demosthenes-Imitationen.
  38. Vgl. Pierzak 2019 und 2021.
  39. Zum Gegensatz domestica–externa vgl. z.B. van der Blom 2007; 2010: 141 und passim; Pierzak 2021: 23–31.
  40. Vgl. dazu Bücher 2006: 264; Pierzak 2021: 27–28.
  41. Das Adverb parumper kommt nur viermal in Ciceros Reden vor. Vgl. vor allem Scaur. 48: Qui [sc. L. Metellus] utinam posset parumper exsistere!.
  42. D.h. Quinct. 12, Mil. 76, und Verr. 4.121. S. Weische 1972: 136 und passim.

COPE
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Received: 28.02.2023. Verified: 21.03.2023. Accepted: 05.04.2023.